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Beitrag vom 11.09.2011
Winterreise - Die Premiere im Deutschen Theater. Vorstellungen noch bis 26. Oktober 2011
Marie Heidingsfelder
In der Inszenierung von Elfriede Jelineks jüngstem Stück begeisterten die fünf Darstellerinnen um Regisseur Andreas Kriegenburg das Publikum mit drei Stunden polyphoner Sprachgewalt. Ein...
... mitreißendes, aufwühlendes und persönliches Stück zu den Klängen von Schuberts Liederzyklus.
Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh´ ich wieder aus
Im fahlen, mal gelben, mal blauen Licht der Bühne breitet sich eine verschwenderisch blühende Wiese aus, die scheinbar außerhalb von Raum und Zeit liegt und nicht das Gefühl von Idylle, sondern von Unwirklichkeit vermittelt. Fremdartig wirkt das Klavier inmitten der Blumen und fremd wirken trotz ihrer Rucksäcke und Wanderschuhe auch die fünf Frauen, die in langen Kleidern durch die Wiese streifen und Schnee über sich und die Landschaft verteilen. So beginnt Elfriede Jelineks Winterreise, ihre innere Wanderschaft zu den Erinnerungen ihrer Kindheit, zu den Fragen von Zeit und Vergänglichkeit und schließlich ironisch zu sich selbst, die doch seit Jahren immer die gleiche Leier dreht.
Ungewohnt persönlich verhandelt Jelinek in ihrem preisgekrönten Stück nicht nur die schwierige Beziehung zu der ebenso geliebten wie gehassten Mutter und die Schuld, den psychisch kranken Vaters in ein Irrenhaus abgeschoben zu haben, sondern schlägt auch den Bogen zu den Wirren der politischen und medialen Gegenwart: Eine Gegenwart, in der Opfer als zu laut empfunden werden und in der soziale Netze die Möglichkeit ständiger emotionaler Bindung und Selbstschöpfung suggerieren.
"Ich wandere nicht mehr gerne, weil ich auch nicht mehr gern aus dem Haus gehe. Jetzt muss ich also sozusagen im Schreiben wandern. Im Stück ist das ein Wandern von hinten nach vorn, wenn man das so sagen kann. Das, was gewesen ist, auch das, was mich seit meiner Kindheit gequält hat, kommt jetzt an. Es ist lang gewandert, und nun ist es bei mir angekommen, als das Frühere, das im Ankommen geborgen wäre, wenn Literatur Psychoanalyse sein könnte, was sie aber nicht ist."
In seiner Inszenierung gelingt es Regisseur Andreas Kriegenburg überzeugend, mit der "Winterreise" ein Stück auf die Bühne zu transportieren, dessen Text als achtteilige, wortgewaltige Prosa erschien und weder Rollen, noch Bühnenraum, noch Regieanweisungen vorgibt: In einem vielstimmigen Wechsel teilen sich Judith Hofmann, Annette Paulmann, Maria Schrader, Anita Vulesica und Susanne Wolff den Text auf. Übergangslos verkörpern sie mal die Stimmen der Autorin, mal stilisierte Gemeinplätze, mal Vater, mal Mutter. Sie fiebern, fallen einander ins Wort, streiten oder reden im Chor, ohne dass die Konzentration in Verwirrung zu kippen droht - eine brillante Darstellung, deren szenisches Spiel die Sprache noch unterstreicht: Ständig kämpfen die fünf Schauspielerinnen mit ihrer Umgebung und sich selbst. Sie schneiden die Blumen, suchen einen Platz, laufen auf der Stelle, fesseln sich ans Klavier, halten sich an aneinander, werfen sich um, bestrafen sich und führen einander durch den Raum. Ein beständiges Anlaufen gegen sich selbst, die Zeit und die Umstände, das die düster-existentialistischen Klänge von Schuberts Original genau so aufnimmt, wie die immer um Sprache ringende Elfriede Jelinek, für die der Wanderer vor allem ein Flüchtiger ist: "Er geht nicht, um irgendwohin zu kommen, er geht, um fortzukommen"
AVIVA-Tipp: Dem Ensemble des Deutschen Theaters gelingt es auf beeindruckende Art und Weise, die Winterreise als Zustand von Isolation und Fremdheit zu transportieren. Ein großartiges Bühnenbild, brillante Schauspielerinnen, Jelineks Sprachwitz und die Musik von Franz Schubert machen die Inszenierung der "Winterreise" - wie auch die im Januar erschienene literarische Vorlage - zu einem eindeutigen Tipp.
"Wüßten wir, wie wichtig es einmal werden wird, wir würden stehenbleiben und es genießen, doch das geht nicht. Vorbei ist vorbei"
Zur Autorin: Elfriede Jelinek wurde 1946 in der österreichischen Steiermark geboren und lebt heute zurückgezogen in Wien und München. Unter dem Druck der ehrgeizigen Mutter erhielt sie bereits als Kind Klavier-, Gitarren-, Flöten-, Geigen- und Bratschenunterreicht und wurde mit 13 am Konservatorium der Stadt Wien aufgenommen. In Folge eines psychischen Zusammenbruchs zog sie sich nach der Matura für ein Jahr in die Isolation zurück und begann in jener Zeit mit dem Schreiben. 1968 schrieb sie ihren ersten Roman "bukolit" in der Tradition der Wiener Gruppe, dem weitere folgten, bevor ihr 1983 mit "Die Klavierspielerin" der internationale Durchbruch gelang. Ihr literarisches Werk umfasst neben Prosa auch Theaterstücke, Lyrik, Essays, Übersetzungen und Hörspiele und ist trotz heftiger Kritik und psychischer Zusammenbrüche der Autorin vielfach preisgekrönt. 2004 erhielt sie den Nobelpreis für Literatur und zählt zu den bedeutendsten Schriftstellerinnen der Gegenwart.
Die hervorragende Internetseite der Autorin finden Sie unter:
www.elfriedejelinek.com
Winterreise
Regie: Andreas Kriegenburg
Bühne: Nikolaus Frinke
Kostüme: Andrea Schraad
Dramaturgie: Meike Schmitz
Besetzung: Judith Hofmann, Annette Paulmann, Maria Schrader, Anita Vulesica, Susanne Wolff
Vorstellungen:
18. September 2011, 19.00 Uhr
01. Oktober 2011, 20.00 Uhr
03. Oktober 2011, 19.00 Uhr
26. Oktober 2011, 19.00 Uhr
Weitere Informationen und Karten für die übrigen Vorstellungen finden Sie unter:
www.deutschestheater.de
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